SELBSTHILFE

Die Sehnsucht nach dem Neuanfang
Das Leben ändern - jetzt? Sich noch mal verlieben, den Job hinschmeißen? Nichts erscheint so verheißungsvoll wie ein Neuanfang. Und nichts macht so viel Angst. Warum es sich trotzdem immer wieder lohnt.
Alles, was an unserem Leben gut ist oder einmal gut war, alles, was uns ausmacht, Freundschaften, unsere Beziehungen, Kinder vielleicht, der Job, die Wohnung, unsere Hobbys - alles hat seinen Ursprung darin, dass wir einmal, vor längerer Zeit, etwas Neues gewagt haben. Das alles waren einmal Anfänge. Und wahrscheinlich die besten Augenblicke unseres Lebens.
"Wahres Leben bewegt sich nach vorn in unbekannte Bereiche", so formuliert es der Psychoanalytiker Wilhelm Reich. In der Forschung wird unsere Sehnsucht nach neuen Anfängen als "Ruf des Lebens" bezeichnet. Denn unsere kleinen und großen Neuanfänge sind nichts weniger als das Leben an sich: das Abenteuer, dessen Heldinnen und Helden wir sind, mit Dämonen, gegen die wir kämpfen, Neuland, das wir entdecken, und unserem neuen Ich, das wir befreien müssen, als wär's eine Prinzessin, die in einem verwunschenen Schloss gefangen ist.
Erst mal aber sitzen wir hier, mit ein paar Freunden, und der Winterabend ist so dunkel und lang, dass irgendwann der Klatsch und die kleinen Themen erschöpft sind, und dann kommt endlich die Wahrheit ans funzlige Licht der runterbrennenden Kerzen. Der Job nervt. Die Stadt ist die falsche. Die Liebe ist so abgenutzt. Unser Leben ist uns zu eng geworden, wir sitzen fest, und alles läuft auf ein großes "Eigentlich will ich viel lieber . . . " hinaus, ein einziges gemeinsames "Man müsste doch eigentlich . . . ". Und dann kommen die Dämonen aus dem dunklen Wald des Grenzgebietes zwischen dem Alten und dem Neuen: Denn schon im Gespräch fallen uns tausend Gründe ein, warum es nicht geht. Jetzt kündigen und sich selbständig machen? Viel zu riskant. Eine Paar-Therapie anfangen, damit wir irgendwann mal wieder miteinander reden können? Bringt ja doch nichts. Mit Mitte dreißig ein Klavier kaufen und Stunden nehmen? Die Zeit hab ich gar nicht. Und wir gehen nach Hause, legen uns ins Bett und leiden ein bisschen an uns selbst, an unserer Unzufriedenheit und unserer Feigheit, bis wir einschlafen, denn morgen müssen wir früh raus in einen weiteren neuen Tag, der sich schon vorm Morgengrauen alt und gebraucht anfühlt.
Die Angst sich das Scheitern einzugestehen, ist größer als die Sehnsucht
Es gibt ein paar interessante Theorien, warum wir in unserer Unzufriedenheit verharren, statt uns zu bewegen. Nach der so genannten "Prospect-Theory" ist es wie mit Aktien, die fallen und die wir behalten, weil wir hoffen, sie würden irgendwann wieder den Wert erreichen, zu dem wir sie gekauft haben: Wenn ich jetzt was Neues anfange, dann habe ich den ganzen Frust umsonst gehabt, ich muss erst mal wieder auf Null kommen, sonst mache ich Verlust. Oder das Phänomen der "kognitiven Dissonanz" - ich bleibe in meiner lieblosen Beziehung, weil mich zu trennen bedeuten würde, mir und anderen einzugestehen: Das war alles nichts. Wenn ich jetzt gehe, dann hätte ich schon viel früher gehen müssen, also habe ich versagt, und dann bleibe ich lieber. Positiver beschreibt es das "Candyshop-Syndrom": Wie ein Kind, das im Süßwarengeschäft nicht weiß, was es von seinem Euro kaufen soll, sind wir gelähmt von der Vielfalt unserer Möglichkeiten. Wenn ich mich für Lakritzschnecken entscheide, entscheide ich mich gegen alles andere. Was ich habe, wird immer weniger sein als das, was ich nicht habe. Also tun wir nichts. Und beklagen uns wieder und wieder darüber, dass unser Leben unausgefüllt ist.